Wie wir schreiben – Carolin Emckes Buch „Wie wir begehren“

Carolin Emcke hat eines der wichtigsten Bücher des Jahres geschrieben. Über das Begehren. Das Begehren als ständigen Prozess. Wie Begehren entsteht, wie es sich im Laufe des Lebens wandelt. Und vor allem, wie wir darüber reden. Denn eines stellt sie klar. Begehren konnte sie nur, was ihr unsere Kultur zu begehren gelehrt hatte.

Solange sie keine Vorstellung davon hatte, dass Frauen Frauen lieben können, tat sie sich schwer als Frau eine Frau zu lieben. Vielmehr dachte sie, als sie einer Frau begegnete, die gut aussah: „Mensch, die Männer dieser Welt müssen ja ausflippen, so wahnsinnig ist diese Frau.“ Dass sie selbst diese Frau begehrte, kam für sie als Möglichkeit gar nicht in Betracht.

So zumindest erging es Carolin Emcke. Sie beschäftigt sich in „Wie wir begehren“ mit ihrer Jugend in den 80er Jahren, in der Homosexualität, aber auch Sexualität an sich, tabuisiert sind. Wie für Emcke üblich, verknüpft sie persönliche Erlebnisse mit einer philosophischen Reflexion. Herauskommt ein Sachbuch, das eines Sog wie ein Roman entwickelt.

Das kritisieren einige. Eine Analyse gesellschaftlicher Zustände, die auf persönlichen Beobachtungen beruht, kann nicht den Anspruch haben, verallgemeinerbar zu sein. Doch Carolin Emcke gibt darauf selbst die Antwort. Eine solche Geschichte „kann nicht wahr, sie kann allenfalls wahrhaftig sein.“

Und gerade deswegen ist es wichtig, ein Sachbuch aus persönlicher Sicht zu schreiben. Denn das tun andere Sachbuchautor_innen auch. Nur verschweigen sie, dass es sich bei ihren Analysen um subjektive Beobachtungen handelt, ja, nur um solche handeln kann. Da sie ja als Menschen ihre Umwelt auch nciht anders als subjektiv wahrnehmen können.

Viele Sachbuchautor_innen gehen aber vielmehr stillschweigend bei ihren Behauptungen von einem Common Sense oder vermeintlich objektiven Statistiken aus. Sie negieren damit, dass andere die Welt anders, ähnlich, ja: konträr, oder einfach nur abweichend von der Mehrheit  wahrnehmen können. Dass Statistiken entwickelt werden, Vorannahmen unterliegen, und ausgelegt werde. Das ist nicht wahrhaftig.

Wahrhaftig ist es, von vorne herein klarzumachen, dass es sich um die eigene, ganz subjektive Beobachtung handelt. Beobachtungen einer konkreten Person, deren Betrachtung der Welt von unzähligen Erfahrungen, Grundannahmen, Vorurteilen, Fokussierungen geprägt ist.

Carolin Emcke pflegt genau diese Art zu schreiben, vor allem in ihren Kriegsreportagen. Sie thematisiert den eigenen Wahrnehmungsprozess, die „Produktionsbedingungen“ ihrer Reportage. Damit ist sie authentisch. Wahrhaftig. Und nimmt den Leser ernst, indem sie annimmt, dass er sich ein eigenes Urteil zu bilden vermag.