Queere Körper ohne queeres Bewusstsein – Vortrag zu Visual Kei im Gender Salon

Kann ich die Gesellschaft verändern, ohne das zu wollen? Diese Frage rankte sich rund um Nadine Heymanns Vortrag „Ich bin so’n Mittelding – Geschlecht und Körper im Visual Kei“.

So wie für die Berliner Studentin Nadine Heymann zu Beginn ihrer Feldforschung war auch für die meisten Leute im Publikum an diesem Abend nahezu alles über die aus Japan kommende Subkultur Visual Kei ziemlich neu. Welche Bands hört man in der Szene? Welche sozialen Netzwerke nutzt man? Was sind die Codes?

Nicht neu war das für zwei Leute aus der ersten Reihe, die sich bald als Visual Kei Fans zu erkennen gaben – vielleicht sogar noch für den ein oder anderen mehr, der oder die sich unter den knapp 30 Leuten in der Glockenbachwerkstatt aufhielt. Denn auch wenn die Kultur um Visual Kei vor allem aus einem unverkennbaren Styling besteht, sind seine Anhänger_innen im Alltag nicht unbedingt als solche zu erkennen. Skinny Jeans, Kajal um die Augen und aufgestellte Haare mit wechselnden Haarfarben tragen die meisten eher nur bei großen Szenetreffs wie dem „Bevis“ in Berlin, das mittlerweile drei Mal im Jahr stattfindet. Fans von Visual Kei, das 2005 in Deutschland populär wurde, sind im Schnitt zwischen 14 und 25. Einige von ihnen nennen sich in Anlehnung an ihre japanischen Idole „Visos“, andere lehnen diese Bezeichnung als unauthentisch ab.

Warum Visual Kei an diesem Abend im Gender Salon diskutiert wurde, einer monatlichen Veranstaltungsreihe des Gender-Lehrstuhls der Ludwig-Maximilians-Universität, war die Frage nach den Geschlechterrollen, die im Visual Kei auftauchen.

Denn Geschlechter sind im Visual Kei – anders als in vielen anderen Jugendkulturen wie dem Hip Hop – uneindeutig und wandelbar. Auf jeden Fall jenseits der Heteronormativität. Visual Kei Fans lehnen sich gern an das japanische Schönheitsideal des androgynen Mannes an und Homosexualität nicht kategorisch ab. Mädchen führen männlich kodierte Praxen aus wie Head Banging zu der meist an Metal angelehnten Musik. Je höher in der Hierarchieebene, je populärer die Protagonist_innen, desto stärker das Rollenspiel und schillernde Storys vom Spiel mit der Transsexualität.

Dabei haben – so die Analyse von Nadine Heymann  – die meisten Anhänger_innen von Visual Kei, anders als das gender-interessierte Publikum in der Glockenbachwerkstatt  – gar keinen Begriff von „trans“ oder „queer“. Visual Kei Fans haben eher nur ein Bild von sich als „nicht normal“, als „extrem“, als „abseits des Mainstreams“. Im Visual Kei ist man nicht politisch, man ist hedonistisch. Wovon die beiden anwesenden Vertreter_innen auch gern ein Beispiel gaben. Sie seien „einfach so“ dazu gekommen. Weil die Kultur „so offen“ sei, sie dort „sein können, wie sie sind“.

Viele Fragen taten sich auf. Kann man queer sein, ohne zu wissen, was queer ist? Kann man politisch handeln, ohne politisch zu denken? Wieviel autonomes Subjekt brauch ich für Subversion? Was haben Uneindeutigkeit und Neoliberalismus miteinander zu tun? Welche Rolle spielt der Konsum? Wie ist die Wirkungsrichtung? Suchen sich Jugendliche Visual Kei, weil sie dort queer leben können? Oder landen sie zufällig bei Visual Kei und lernen dort queere Praxen?

Leider konnten diese Fragen nur gestellt, nicht beantwortet werden. Weder von den Forscher_innen, noch von den Fans, die ihrerseits mit Skepsis die Sprache und Codes der Forscher_innen beobachteten. Ja, Visual Kei sei vielleicht „heteronormativ“ zögerten sie, sei vielleicht ein „Möglichkeitsraum“.

Auch ohne Antworten – ein gelungener Abend. Nicht zuletzt deswegen, weil hier die Forscher_innen bei der Forschung beobachtet wurden. Nämlich von den eigenen „Untersuchungsobjekten“. Auch so werden Verhältnisse geändert.


Männer in Röcken – Interview mit den Goldenen Zitronen


Buenos Aires is a jungle! – Interview mit Kelies

Anlässlich ihres Konzertes auf dem LaD.I.Y.fest am Schwarzen Kanal haben wir mit Cecilia, Julia, Josefina und Sil von der argentinischen Garagenpunkband Kellies über Buenos Aires, ihre Europatour und ihre musikalischen Pläne gesprochen.


Banging and nailing! – Interview mit Holly Golightly and the Brokeoffs

Weil ihre Mutter gerade schwanger war, als sie Truman Capotes Roman “Frühstück bei Tiffany’s” las, trägt die bezaubernde Sängerin Holly Golightly heute den Namen der Romanfigur. Warum sie trotzdem das pure Gegenteil davon ist, hat sie anlässlich ihres Konzertes im Festsaal Kreuzberg erzählt.
Außerdem verriet sie dort, was das Faszinierende an der Musik vergangener Tage ist, denn während Holly Golightly, die bereits 13 Alben solo aufgenommen hat, früher Garagenrock machte, verbindet sie heute mit Dave Lawyer als Holly Golightly and the Brokeoffs Folk, Blues und Country.

Interview vom 4. Juli 2009


Bandgeschichte – Band 2 – Tocotronic

tocotronic2.jpgIn unregelmäßigen Abständen stelle ich einige Bands aus der deutschen Musiklandschaft vor. Den Anfang machten Die Goldenen Zitronen und nun Tocotronic.

Alles was ich will ist / Nichts mit euch zu tun haben

Das ist natürlich leicht gesagt / Wenn man sowieso nicht dazugehört

Sich rar machen bringt ja nichts / Wenn es niemand merkt

Es gibt immer wieder Stimmen, die behaupten, die Deutschen könnten nicht singen. Zum Beispiel der Rolling Stone. Auf seiner Liste der 100 besten Sänger – Aretha Franklin (Platz 1), Bob Dylan (Platz 7), David Bowie (Platz 23) – taucht kein einziger Deutscher auf.

Daran ist Dirk von Lowtzow, Sänger der Hamburger Band Tocotronic, nicht ganz unschuld: nasal, gequetscht und schief klingt sein Gesang, und er wäre sicher nicht böse, wenn ihm ein Fan beim Joggen im Berliner Friedrichshain auflauert – mit einem großen Schild: „Gebe kostenlos Gesangsunterricht, Dirk!“

Vielleicht gerade weil er nie singen konnte und die Musik aus Gitarre, Schlagzeug und Bass immer so unschuldig schludrig gespielt war, wurden Tocotronic Mitte der 90er zu Idolen. Ihr Style aus Trainingsjacken, Cordhosen und Saitenscheitel, der eine ganze Modegeneration prägte, war nur ein äußerliches Merkmal für eine innere Haltung, die Dirk von Lowtzow mit seinen Texten einfing. Texten, die wie auf die Ecke eines Papierfetzens gekritzelt klangen.

Gitarrenhändler ihr seid Schweine
Gitarrenhändler ich verachte Euch (zutiefst)
(“Hamburg rockt”, 1995)

In der Schlichtheit der Sprache steckte eine Wahrheit, die ohne Symbole und pseudointellektuelle Kodifizierungen funktionierte, eine Gültigkeit, die über das einzelne Gitarrenhändlerschwein hinausging. Vielleicht war es das, womit die Hamburger nicht nur Großstadtseelen, sondern auch Dorfdiskogemüter erreichten. Ein Song war ein Song war ein Song. Da musste man auch im Aufbau nicht krampfhaft originell sein. Tocotronic hatten nie das Gefühl sich ändern zu müssen. Den von den Medien geschaffenen Begriff der “Hamburger Schule”, von denen neben ihnen auch Blumfeld und die Sterne an Berühmtheit erlangten, ironisierten oder ignorierten sie.

Erst als zur Jahrtausendwende Bands wie Kettcar und Tomte sie zu kopieren versuchten, brachen sie mit ihrem Stil, schufen erstmals Bilder und Assoziationen und ließen sich auf „K.O.O.K.“(2000) kurzzeitig von Krautrockbands wie Canbeeinflussen. Auf „Pure Vernunft darf niemals siegen“ (2005) wurden Tocotronic mit monotonen Gitarren, Hall und einem deliriumsartigen Gesang melodiöser, mystisch, fast hypnotisch. Eine Gradwanderung zum Kitsch war das zwar, aber klare Aussagen blieben dennoch: „Aber hier leben, nein danke“ sangen sie und grenzten sich, wie zuvor schon oft, von der Deutschtümelei ab, die Bands wie Mia entfacht hatten. So auch letzten Herbst, als am Tag der Deutschen Einheit MTV deutsche Songtexte, auch von Tocotronic, zu „Heimatmelodien“ kürte. Wir möchten ausdrücklich darauf hinweisen, dass wir nichts, aber auch gar nichts von unserer Teilnahme an dieser höchst zweifelhaften Aktion gewußt haben und wir auch nichts von solchen heimatduseligen Lyrikwettbewerben halten.

Klare Aussagen in einer komplizierter werdenden Welt. Die wüscht man sich heute noch – auch ohne Trainingsjacke.

Irgendein Fan hat Dirk von Lowtzow mittlerweile Gesangsunterricht erteilt, aber auf die Liste der 100 besten Sänger wird es nicht mehr schaffen. Gott sei Dank. Denn pure Vernunft darf niemals siegen.


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Tocotronic für Anfänger: Digital ist besser (1995)

Tocotronic für Fortgeschrittene: Kapitualion (2007)


Warum nicht mal ’ne scheiß Frauenband? – Interview mit Gudrun Gut

gudrunGut.jpg„Warum nicht mal `ne scheiß Frauenband?“

In den 80ern war sie Gründungsmitglied derEinstürzenden Neubauten, später die Grande Dame des deutschen Techno. Heute ist Gudrun GutMusikerin, Produzentin und Labelinhaberin. Ihre Plattenfirma monika enterprises hat fast ausschließlich weibliche Künstlerinnen wie Barbara Morgenstern oder Myra Davies unter Vertrag.

Gudrun Gut, warum konzentrierst Du Dich auf Bands mit weiblichen Künstlerinnen? Machen Frauen bessere Musik?
Ja, ich finde schon. Ich beantworte die Frage natürlich relativ häufig: „Warum signst du nur Frauen?“ Das stimmt nicht ganz. Bei monika enterprises gibt es auch Männer, aber die müssen dann besonders gut sein. Genau wie Frauen bei normalen Labels auch besonders gut sein müssen, damit sie gesignt werden.
Hat man es als Frau schwerer, einen Vertrag mit einem Label zu bekommen?
Das weiß ich nicht. Aber es ist Tatsache, dass bei einem normalen Musiklabel die Frauenquote so ist wie bei mir die Männerquote.
Muss man sich als Frau eher rechtfertigen, wenn man auf der Bühne stehen will als als Mann?
Nein. Es gibt natürlich viele Frontfrauen in der Musikszene, Sängerinnen, die oft die Stücke gar nicht selber schreiben. Beim Label und mir selbst geht es darum, dass die Frauen tatsächlich auch ihre eigene Musik machen. Dass es weiter geht, als nur hübsch auszusehen oder eine gute Stimme zu haben.
Haben Frauen es schwerer in der Rockmusik?
Ich habe beobachtet, dass am Anfang von solchen Bewegungen Frauen immer ganz vorne dabei sind. Aber wenn es um eine Professionalisierung geht, darum, den Fuß auf die Erde zu bringen, sortieren sie sich schnell aus. Ich glaube, dass die Netzwerke – die Musiknetzwerke – männerbesetzt sind. Man muss sich mal die Zeitungen angucken, die Vertriebe. Wieviele Frauen arbeiten da an welcher Stelle? Auch die Musikzeitungen. Das sind fast alles nur männliche Redakteure.
Ist es nicht so, dass sich einfach weniger Frauen für Musik interessieren?
Warum? – frag ich mich da. Also, wenn es so ist, warum. Ich glaube das nicht. Weil in der Schule ist es ja so, dass gerade Musik doch eine Frauendomäne ist.
Du hast die Entwicklung der Frau in den letzten Jahrzehnten miterlebt. Hat sich etwas verbessert?
In der Musikbranche hat sich das nicht richtig verändert. Das merkt man erst, wenn man etwas länger dabei ist. Als ich angefangen hab – mit 19, 20 Jahren – war die Welt offen. Da war alles gleich, völlig egal, ob Mann oder Frau. Erst wenn man etwas länger dabei ist, merkt man plötzlich, dass es doch nicht so gleich ist, wie es erst den Anschein macht. Das sehe ich auch bei den jungen Künstlerinnen. Anfangs ist das gar kein Thema. Erst wenn man weiter eingetaucht ist, merkt man das plötzlich. Man muss sich mal das Line-Up von Musikfestivals angucken. Das ist wirklich hart. Es sind so gut wie keine Frauen dabei, noch nicht mal zehn Prozent. Das muss man einfach mal so nebeneinander halten. Und es ist keine Qualitätsfrage. Ich war schon auf vielen Festivals, und da sind immer scheiß Bands dabei. Warum nicht mal ‘ne scheiß Frauenband nehmen? So sehe ich das. Es muss ja nicht immer alles so wahnsinnig gut sein.
Was sind für Dich die Gründe? Woran liegt das?
Das liegt daran, wer der Kurator ist, wer die Sachen aussucht. Das sind Jungs. Ich habe ja auch schon ein paar Sachen mitkuratiert und ich glaube, ein Festival, bei dem Frauen dabei sind, ist immer interessanter. Wenn es zumindest eine 30/70 Quote ist. Schöner wäre natürlich 50/50. Und es funktioniert ja auch. Es gibt genug gute Frauenbands oder Einzelkünstlerinnen. Deswegen, finde ich, kann man ruhig eine Quote einführen.
Du bist für eine Quote?
Absolut. Ja.
Zum Beispiel im Radio oder auf Festivals?
Alle, die Radio oder Fernsehen machen oder Festivals veranstalten, könnten zumindest darüber nachdenken.
Was zeichnet Deine Künstlerinnen aus?
Meine Künstlerinnen zeichnet aus, dass sie alle sehr gut sind (lacht). Nein. Mein Kriterium ist immer, dass die Künstlerinnen, die ich signe, nicht unbedingt das machen, was alle machen, sondern, dass sie einen eigenen unverwechselbaren Stil haben und selbstständig arbeiten. Das gilt für Männer, aber auch für Frauen. Wir haben zum Beispiel ein paar gute Männer dabei. Auf die trifft das auch zu. Da muss schon eine besondere künstlerische Kraft dabei sein.
Bist Du politisch motiviert im Sinne eines Feminismus?
Ich weiß nicht, die Motivation kommt eher daher, dass ich selber auch Musik mache, und dass ich es immer ernster genommen hab, wenn ich eine Frauenband gesehen hab. Das hat mich immer mehr angespornt für meine eigene Musik, als dass ich jetzt männliche Einflüsse gehabt hätte. Die weibliche Stimme in der Popmusik ist für mich einfach interessanter.
Also diente Dein Engagement dem Selbstzweck?
Absolut. Ja.


Bandgeschichte – Band 1 – Die Goldenen Zitronen

goldenezitronenIn unregelmäßigen Abständen stelle ich hier Bands aus der deutschen Musiklandschaft vor. Den Anfang machen Die Goldenen Zitronen.

Es geht gut, liebe Mutter, mach Dir keine Sorgen / die verdammte Welt schiebt ihr Wägelchen ja doch weiter durch den Kalendar

Vom Fun-Punk zum Intellektuellen-Scheiß!

Weniger ernst nehmen als DIE GOLDENEN ZITRONEN kann man sich nicht. Gerade gab die Band einen Dokumentarfilm in Auftrag: Filmemacher Peter Ott sollte ein Portrait über sie machen. Die einzige Bedingung, die die Band stellte: die beiden Köpfe der Band Schorsch Kamerun und Ted Geier dürften nicht darin vorkommen! Warum? Weil – so sie selbst – die beiden als Sänger und Texter eh immer zu Wort kämen. Also inszenierte der Filmemacher einfach ein Interview. Dazu setzte er seinen 85jährigen Schwiegervater in einen Sessel, der die beiden spielte, man beachte: der gleiche alte Mann spielte beide (!). Die Ästhetik des Films ist ansonsten geprägt von Wackelkamera und grottenschlechtem Sound. Der Zuschauer erkennt: hier wird absolutes Understatement gepflegt – bei gleichzeitigem enormen Selbstbewusstsein. Bei der Filmpremiere in Berlin Ende 2008 zeigte sich nicht nur Gaier begeistert, sondern die ganze versammelte Fangemeinde inklusive der einschlägigen Musikpresse.

Als DIE GOLDENEN ZITRONEN 1984 entstanden, dachte vermutlich keines der Gründungsmitglieder, dass sie mal zum Liebling der Intellektuellen werden könnten. Mit provokanten Sprüchen und krachenden Bühnenauftritten in Frauenkleidern soffen sie sich zusammen mit den TOTEN HOSEN durch westdeutsche Jugendzentren. Und hatten damit auch schnell Erfolg. Doch bald bestand ihr Publikum mehrheitlich nur noch aus proletigen Schnauzbartträgern, und sie sahen sich gezwungen, ihre Texte und Musik zu verändern. Nach dem Hit „Für immer Punk möchte ich sein“ und dem Album „Fuck You“ mischten sie den Fun-Punk mit Garagenrock, Noise- und Hip-Hop-Elementen.

Ihr Schicksal, von Meinungsmachern eingenommen zu werden, die ihnen nichts galten, setzte sich fort. Deals mit großen Plattenfirmen lehnten sie ab und verfolgten somit nicht den Weg, den die TOTEN HOSEN gingen. Eine Kombination aus Konsum und Musik wollten sie nicht. Und hier, wo es um den Lebensunterhalt der Berufsmusiker ging, zeigt sich: ihre Ablehnung von mächtigen Meinungsmachern und einer unkritischen Konsensgesellschaft ist keine Attitüde, sondern reine Überzeugung. Zu allem Überfluss galten sie plötzlich auch noch als Vorläufer der „Hamburger Schule“, der weitreichenden deutschsprachigen Musikszene mit Mitgliedern wie BLUMFELDDIE STERNE und TOCOTRONIC, die mitunter möchtegern-intellektuelle Nachläufer hatten.

Der ZITRONEN-Liebhaber von heute darf es als glückliche Ereigniskette betrachten, dass diese Versuche von Vereinnahmungen die Band zu immer verquereren und experimentelleren Texten und Musikstilen trieben. „Eine aufgeladene Prepaidkarte macht noch keinen eingeladenen Freundeskreis“ – selten werden einem die asozialen Strukturen der Konsumwelt so geschickt vor Augen geführt. Ebenfalls eine Textzeile aus dem Song „Mila“„keiner hält seine Hände mehr in die Luft, längst schon sind die Jüngeren die Älteren“ -ein Abgesang auf eine neokonservative Jugend, deren Vertreter im Alter von 15 ihre Karriere planen und Rhetorikseminare besuchen.

Die einzige Gruppe, von der sich die von Anfang an ausschließlich aus Männern bestehende Band in Beschlag nehmen lässt, sind feministische Frauenbands. Indem sie auf den Alben „Schafott zum Fahrstuhl“ (2001) und „Lenin“(2006) mit denCHICKS ON SPEEDFRANCOISE CACTUS und PEACHES zusammenarbeiteten, trotzten sie fortan der Männerdomäne „Rockmusik“.

Erwartungen durchbrechen scheint nicht Absicht, sondern innere Notwendigkeit zu sein. In einer Zeit von Brutalo-Musikvideos und pornographischen Texten beantwortet die Band die oft gestellte Frage, wie man heute noch provozieren kann mit dem Song „Flimmern“: „Was sollen die Nazis raus aus Deutschland? Was hätte das für `n Sinn? Die Nazis können doch nicht raus. Denn hier gehören sie hin!“ Und kehren so mit der Provokation des linken Establishment zum Ursprung des Punk zurück: angeekelt von der zugedröhnten Selbstzufriedenheit und ewigen Selbstreflexion der Hippies, kokettierten Anfang der Siebziger ein paar englische Kids mit Nazisymbolen und politisch unkorrekten Statements, stellten sich damit auf die Bühne und schufen den Punk.

Die Goldenen Zitronen – Flimmern

Die GOLDENEN ZITRONEN leben heute noch – vielleicht als einzige in Deutschland – dessen Reinform. Politisch – und politisch inkorrekt! Krachend – und intelligent! Selbstbewusst – und selbstironisch! Aber immer – unangepasst.

Deswegen war auch dieses neue Bandportrait notwendig. Zwar hatte bereits 2003 der Filmemacher Jörg Siepmann die Dokumentation „Golden Lemons“ über die USA-Tour der Band gedreht: mit einer Spielfilmkamera, lehrbuchartigen Einstellungen, harmonisch dazwischengeschnittenen Interviewpassagen und einem filmschulischen Spannungsbogen, in dem er von „Girlie-Groupies“ und dem „Kampf um Anerkennung“ sprach“. Doch die Band lehnt den Film bis heute ab, er zeige ein von Clichés und Banalitäten vorgeformtes Amerikabild und ignoriere das Selbstverständnis der Band, was ihnen „die Galle hochkochen“ ließe. Mit dem neuen Film von Kumpel Peter Ott mit seiner Wackelkamera und seinem Schwiegervater als Protagonisten haben DIE GOLDENEN ZITRONEN nun ein adäquates Bild von sich geschaffen. Humorvoll und dilettantisch. Es hat den schlichten Namen: „ÜBRIGGEBLIEBENE AUSGEREIFTE HALTUNGEN.“ Wer seinem Film so einen Titel gibt, will keine Anpassung.


Dokumentarfilm // Die Goldenen Zitronen

Was: Übriggebliebene ausgereifte Haltungen

Wann: ab dem 6.11.08

Wo: Lichtblick-, Eiszeit-Kino

Peter, Du machst Scheiß-Filme.

Wackelkamera, schlechter Ton, Lücken, Patzer. So was hat man noch nicht gesehen. RegisseurPeter Ott hat einen klassisch dilettantischen Dokumentarfilm über die Goldenen Zitronen gemacht. Ganz in Zitronen-Manier fehlt alles Erwartbare. Sogar die beiden Köpfe der Hamburger Band Ted Gaier undSchorsch Kamerun. Weil die beiden – das verriet Ted Gaier gestern bei der Premiere des Films im Arsenal-Kino – eh immer im Mittelpunkt stehen, wollten sie in diesem Auftragswerk lieber gar nicht vorkommen. So ist der einzige O-Ton von Kamerun: “Peter, Du machst Scheiß-Filme. Lass mich in Ruhe.”

Dafür kommen alle anderen ehemals oder noch Beteiligten und Freunde der Band zu Wort. Ale Sexfeind, der erzählt, wie er “rausgemobbt” wurde. Julius Block, der als Thomas Wenzel bei den Sternen spielt und bedauert, dass man heute leider nicht mehr einfach aus einer Band aussteigen kann. Mense Reets von Egoexpress, Francoise Cactus von Stereo Total und Hans Platzgumer. Melissa Logan vonChicks on Speed, die auch an dem Album “Lenin” beteiligt war oder Daniel Richter, der ehemalige Manager der Zitronen und heute gefeierte Maler der Leipziger Schule, der das Cover zu “Lenin” machte. Und weil Kamerun und Gaier nicht reden, lässt Peter Ott die beiden einfach von seinem 80jährigen Schwiegervater spielen. Der Film erzählt chronologisch – und das ist die einzige Orientierung, die man hat – die “Geschichte” der Band und warum sie sich gegen den Fun-Punk und für experimentellerere Texte und Arrangements entscheiden musste.

Nicht nur inhaltlich besticht der Film, sondern auch aufgrund seiner filmischen Erhlichkeit. Kein 16:9, sondern 4:3, der Autor versteckt sich nicht, sondern stolpert einfach mit seiner Kamera durch die Gegend, und es kommt hier kein Filmteam mit einem vorgefertigten Konzept, das alle Bider schon vor Drehbeginn festgelegt hat, sondern ein Typ, der die Kamera auf das hält, was passiert. So werden Dokumentarfilme gemacht. Das möchte man sehen. Übrigens ganz im Sinne sozialistischer Dokumentarfilmer wie Jürgen Böttcher und Thomas Heise. Und eben im Sinne des Punk. Keine Proben. Kein Konzept. Einfach los. Ehrlich und schön.